Ich hatte eine Essstörung – als Kind. Als Jugendliche. Früher. Ich kann es gar nicht zeitlich begrenzen. Ich weiß nur, dass es relativ früh anfing, dass ich kein gutes Verhältnis zu Essen hatte. Schon immer stand das gemeinsame Essen im Mittelpunkt meiner Familie. Essen war Gesellschaft. Essen war ein Ereignis. Essen war lecker. Aber Essen war auch immer irgendwie gefährlich. Denn von Essen nahm ich zu. Ich sowieso, im Gegensatz zu meinem Bruder, dem meine Mutter Magnum-Eis in den Smoothie pürierte, damit er endlich etwas ansetzte. Ich jedoch wurde oft ermahnt. Das Nutella-Glas stand immer bei meinem Bruder. Ich durfte es zwar essen, aber ich wusste ja auch, was dann passierte… Ja, ich wusste es, ich nahm zu. 

Essen war lecker und böse, denn es machte mich dick. Kohlenhydrate sowieso. Also hörte ich auf, sie zu essen. Früh. Zu früh, glaube ich. Denn ich stand schon als Kind vor dem Spiegel und zog meinen Bauch ein. Zuhause merkte man, dass ich im Ungleichgewicht mit dem Essen stand, aber eine Lösung war nicht da. Denn meine Mutter wollte natürlich nicht, dass ich dick werde, wollte mich aber auch nicht ständig ermahnen. Also brachte sie mir (da war ich ungefähr 13/14 Jahre alt) eine hautstraffende Creme für Teenies aus der Stadt mit, um mir eine Freude zu machen und mich wahrscheinlich ein wenig daran zu erinnern (so nahm ich es als Empfänger auf), dass ich mehr als andere Kinder auf den Rippen habe. Für mich war dieser Moment so prägend, dass es dort für mich erst richtig anfing. Ich meldete mich im Fitness Studio an. Machte Sport. Extrem viel. Ich war damals wie in einem Rausch.

Ich nahm viel ab

Ich weiß noch, dass das gar nicht so einfach war in diesem Studio unter 16 Jahren trainieren zu dürfen, aber irgendwie klappte es doch und es machte mir richtig Spaß. Ich war stundenlang auf dem Stepper und hatte danach einfach keinen Hunger mehr. Ich nahm viel ab. So viel, dass meine Mutter morgens das Nutellaglas in meine Richtung schob und meine Schulbrote extra dick belegte. Diese verschenkte ich in der Schule. Dieses dünn werden ging von alleine und irgendwie fühlte ich mich dadurch total anders, besser, schöner.

Irgendwann kam meine Lehrerin auf mich zu und fragte, ob ich Probleme hätte. Ihr sagte ich, dass sie das wirklich falsch interpretiert. Mir geht es gut. Ging es mir eigentlich aber nicht. Mit meiner damaligen Freundin (sie machte alles schlimmer), beschloss ich, dass wir uns Würmer im Internet bestellen, die wir schlucken, damit diese unser Essen quasi von innen aufessen. Sie kamen an, getraut sie zu nehmen, habe ich mich nicht. Dafür kauften wir uns auf dem Schwarzmarkt Abnehmtabletten. Ein älterer, hinterweltelerische Typ aus dem Fitness Studio hat uns diese damals verkauft. Da war ich 16 Jahre alt. In der Zeit, in der ich diese nahm, nahm ich nicht ab, hatte aber Herzrasen und ständige nasse Hände. Ich setze sie wieder ab.

Binge Eating nennt sich das

In meiner Jugend ging es mit mir und meinem Körper immer auf und ab. Ich nahm zu und geißelte mich. Ich aß tagelang nichts und wenn, dann steckte ich mir auch mal den Finger in den Hals. Aber das war mir zu ekelig. Also aß ich nichts. Und dann, besonders nachts, nachdem ich von Partys wiederkam, aß ich wieder so viel, dass ich mit Bauchschmerzen auf dem Boden lag. Binge Eating nennt sich das – was ich damals nicht kannte. Doch ich machte es nie extrem, sondern immer kontinuierlich. Immer im Wechsel zwischen Phasen, in denen ich schlank sein wollte und Phasen, in denen ich resignierte.

Ich glaube, dass mich in der Zeit nichts und niemand davor bewahren hätte können. Ich musste diese Erfahrung machen und kam auch noch lange nicht davon weg. Denn auch als ich nach Hamburg ging, hörte es nicht auf.

Ich macht Stoffwechselkuren 

Ich machte sehr viel Sport (immer eigentlich, seitdem ich mich damals das erste Mal im Fitness Studio angemeldet hatte), aß aber dafür auch viel. Ich ernährte mich schon jahrelang Low-Carb (und vermisste Kohlenhydrate sehr), aß eine zeitlang strikt ketogen, machte Saftkuren, eine davon brachte mich mit einer starken Unterzuckerung ins Krankenhaus – das war an meinem 21. Geburtstag. Ich macht Stoffwechselkuren und Intervallfasten. Ich trainierte mit einem Personal Trainer und ließ mich von Ärzten durchchecken, schlussendlich nahm ich jahrelang Medikamente (weil mein Zuckerspiegel nicht stimmte). Bis ich ein Telefonat hatte, was mein Leben veränderte. 

Ich sprach mit einem Bekannten, der als Fitness Coach arbeitet, am Telefon über meinen Hass auf meinen Körper und das ständige auf und ab, den Verzicht und das krasse Sportprogramm, was ich seit Jahren absolvierte. Ich erzählte ihm, dass es mir keinen Spaß mehr macht, im Studio zu trainieren, weil mir die Fitness-Geräte zu wenig Gewicht bieten. Ich erzählte ihm, dass ich nicht glücklich werden kann, wenn ich nicht endlich herausfinde, was mit mir nicht stimmt. Und er fragte mich eine Sache, die ich niemals vergessen werde. Ich saß an meinem Schreibtisch und krickelte nervös auf einem Blatt Papier rum, als er mich fragte, warum ich denn eigentlich unglücklich wäre…

Ich schluckte und erzählte ihm, was mich bedrückte. Gerade und mein Leben lang. Wir sprachen über diese Dinge in einem halbstündigen Telefonat, ich lag auf und weinte bitterlich. In diesem Moment verstand ich, dass das, was mich abhält loszulassen, nichts mit meinem Essen zu tun hat. Nichts mit meiner Figur. Nichts mit meiner Disziplin. Mein Unglück, was ich zu der Zeit spürte, lag ganz wo anders und ich gab dem Essen und meiner Figur all die Aufmerksamkeit, anstatt an das eigentliche Problem zu gehen. Genau in diesem Moment habe ich es verstanden und habe mir verziehen, dass ich mich jahrelang so schlecht behandelt habe. 

Ich habe falsche Vorbilder gehabt

Ich denke, dass meine Essstörung, die ich damals natürlich überhaupt nicht erkannt habe, viele verschiedene Faktoren hatte. Ich habe von zuhause gelernt, dass es wichtig ist, was Essen mit uns macht – was einerseits sehr wichtig, aber auch sehr gefährlich sein kann. Ich habe falsche Vorbilder gehabt und keiner hat mein eigentliches Problem wirklich erkannt (ich denke, dass mir eine Therapie damals gutgetan hätte). Ich habe in Extremen gelebt und nie einen Mittelweg gefunden. Und der wichtigste Punkt: ich war verloren, fühlte mich alleine und brauchte Halt. 

Nach diesem Telefonat fing ich an, mein Verhalten zu reflektieren. Ich baute wieder Kohlenhydrate in mein Leben ein und fing an, sie zu genießen, ich aß wieder Schokolade und aß wieder regelmäßig, dafür von kleineren Tellern. Ich machte etwas richtig verrücktes (für mich damals): ich hörte jeden Tag in mich hinein und entschied mich, genau das zu essen, auf was ich Lust habe. Intuitiv zu essen. Ich meldete mich im Fitness Studio ab und beim Yoga an. Ich beschäftigte mich viel mit mir und meinem Glück. Ich stellte mir kleine Aufgaben und große Ziele. Alle hatten nichts mit meinem Körper zu tun. 

Langsam veränderte sich mein Mindset. Meine Stimmung. Mein Gefühl zu mir selber. Eine Sache an mir gefiel mir aber immer noch nicht und die ließ ich bei einem Arzt behandeln, denn seine Mitte zu finden heißt nicht, dass man sich komplett toll finden muss. 

Ich fing an, alle Extreme aus meinem Leben zu streichen und kam immer mehr bei mir an. Ein Prozess, der mir übrigens mit jeder Schwangerschaft einfacher fiel. Und mich immer mehr darin bestärkte, dass ich auch meinen Kindern ganz sicher von Anfang an genau diese Werte mitgeben will. Essen ist gut. Essen ist sinnvoll. Essen soll lecker sein. Aber Essen ist nicht alles. Du bist mehr als dein Körper. Aber dein Körper ist alles, was du bist. Also behandelt euch gut. Ihr habt nur euch!