Folge 5 von unserem digitalen Roman
Ich blicke hinüber zu Lupita. Sie sitzt in der Menge, die Beine überschlagen, die Kopfhörer im Ohr, ihre Augen ruhen auf dem riesigen Airbus auf dem Rollfeld. Alle scheinen ihre innere Ruhe am Gate zu finden. Vielleicht verspüren sie sogar Langeweile. „Nein, junge Dame!“, sage ich und hetze zu meiner Tochter, die auf Entdeckungsreise ist. Mit krummem Rücken verfolge ich sie nun schon gefühlt Ewigkeiten am Flughafen. Ich möchte sie nicht in den Kinderwagen stecken, denn sie muss gleich noch lang genug sitzen. Alea liegt bäuchlings vor der Heizung am Boarding-Schalter, pult lange Staubfäden aus den Rillen und versucht, sie von den Fingern abzulecken.
„Ha, Kinder“, schmunzelt eine Passagierin auf der Bank gegenüber. „Die kosten manchmal Nerven, was?“ Sie nimmt die Hand ihres Mannes und lächelt uns an.
„Ja, wem sagen sie das. Ich finde, Kinder sind wie Drogen. Sie bescheren einem Glücksmomente, sind aber auch teuer und machen einen fertig“, antworte ich.
Das Lächeln in ihrem Gesicht schwindet. Sie nickt höflich und wendet irritiert ihren Blick ab. Spießer. In den wenigen Sekunden dieser Nicht-Unterhaltung schafft es Alea zu entwischen und am Rucksack eines jungen Mannes zu spielen. Er liest gerade auf seinem eBook-Reader und schmeißt mir einen genervten Blick rüber. „Oh, Smartie, nein. Komm!“, flüstere ich leise. Ich habe das Gefühl, dass mich die gesamte Halle mitleidig und gleichzeitig genervt beobachtet.
Lieber ein kräftezehrendes Abenteuer als gar kein Abenteuer
Ich lasse mich mit Alea neben Lupita in den Sitz fallen und öffne die Tüte mit den getrockneten Erdbeeren. Sie nimmt ihre Kopfhörer aus den Ohren.
„Cherie, wolltest du mit den Snacks nicht erst im Flieger anfangen?“, fragt Lupita.
Ich atme tief durch und zucke mit den Schultern. Mia egal. Alea quengelt, weil das Loch in der Tüte nicht groß genug für ihre Hand ist.
„Ich weiß, mein Smartie, bald kannst du schlafen“, sage ich und streiche ihr übers Haar.
Nach langer Recherche tausender Travel-Tipps und Erfahrungsberichte von Flügen mit Kindern konnte ich Lupita überreden, einen Nachtflug zu buchen. Es ist unser erster Flug. Und dann gleich Langstrecke. Knapp 12 Stunden. Was zur Hölle hatte mich geritten? Naja, lieber ein kräftezehrendes Abenteuer als gar kein Abenteuer. Egal ob Flugzeug, Auto oder Bahn: Reisen mit Kind ist nun mal das Downgrade der Elternschaft.
Ob Flugzeug, Auto oder Bahn…
Einen schwarzen Peter zieht man bei jedem Griff: Das Kinderabteil im ICE ist belegt oder das Kind möchte die Rucksäcke anderer Mitfahrer ausleeren oder beim Umsteigen schafft man die Zeiten kaum, weil der Fahrstuhl am Bahnhof defekt ist. Im Auto ist zumindest die Gepäckfrage kein Problem. Dafür müssen ständig Bewegungspausen eingerechnet werden oder der Schlafrhythmus wird durcheinandergewirbelt oder die Sonne blendet das Kind, aber mit dem Sonnenschutz quengelt das Kind, weil es nichts mehr beobachten kann. Mein Herz trachtet nach den Zeiten, als ich mit Podcast im Ohr auf vorbeiziehende Felder starren konnte.
„Komm, ich nehme die Kleine an die Hand und sie darf nochmal spazieren und gleichzeitig snacken, ok?“, fragt Lupita. Meine beste Freundin steht auf und schnappt sich das Kind. Ich gehe geschlaucht, aber dankbar nebenher. Schon in der Sicherheitskontrolle hatte Alea den Geduldsfaden strapaziert und durchgängig auf dem Arm gezappelt. Im Kinderwagen hat sie sich dann durchgedrückt und genölt. Verständlich, ist ja alles viel spannender von oben. Mit einem Kind auf dem Arm den Gürtel ausziehen und dabei drei Taschen voller Snacks und Ablenkungen in den Röntgenscanner schieben – manchmal liegt die Hölle nicht unter der Erde, sondern über den Wolken.
Ein Zeichen
Reisende Supereltern zeigen auf Insta immer nur, wie sie relaxed und strahlend mit der Kraxe durch die Naturwunder der Erde schlendern. Als ob sich Urlaub, seit man Kinder hat, so null verändert hätte. Als ob man immer noch anderthalb Stunden brunchen oder den Klapperbus durch die Berge mit den Einheimischen nehmen könnte.
„Oh Gott, Mia!“, ruft Lupita entsetzt und stößt mich mit ihrem Ellenbogen in die Rippen. „Schau dir bitte die Flugnummer an, ist das ein Zeichen?“ Meine Blicke schnellen auf die Infotafel. Flug 383 nach Bogotá, Boarding 20:10 Uhr. Ich muss schmunzeln. Das ist tatsächlich verrückt. Ein Mädchen im Teenageralter, das gerade neben uns steht, schaut uns nervös an.
„Was ist ein Zeichen? Ein schlechtes Zeichen? Ein Omen? Das ist auch mein Flug“, sagt sie.
Ihre Finger kneten durch ihr Reisekissen im Arm. Lupita lächelt sie an.
„Nein, alles gut, alles gut. Der Flug heißt 383 und der Ex meiner Freundin konnte immer nur 38317 statt Ich-liebe-dich sagen. Ist ihm nie über die Lippen gekommen. Nur diese Zahlenreihe“, sagt sie. Mein Ex. Eine furchtbare Betitelung. Eine 3-Monats-Pause macht uns noch nicht zu Ex-Partnern?
„Ok, das ist cringe“, urteilt das Mädchen und schlürft hinüber zum Boarding, das gerade begonnen hat.
Sie ist sichtlich angespannt. Ich kann es verstehen. Je älter ich werde, desto ängstlicher bin ich auf Flügen. Ich verstehe auch einfach nicht, wie so eine schwere Metallkiste in der Luft schweben kann. Wenn ich die letzten Jahre geflogen bin, war zum Glück Moritz an meiner Seite, erklärte mir als Ingenieur, wie unwahrscheinlich es ist, dass eine lockere Schraube zum Absturz führt, streichelte zur Beruhigung meine Augenbrauen und nahm bei Turbulenzen meine Hand. Nun ist es an mir, für meine Tochter die Furchtlose zu mimen.
Was wenn…?
Natürlich habe ich mir schon zig Mal ausgemalt, was wäre, wenn ein Unglück passiert. Das kenne ich schon aus dem Alltag. Was wären meine letzten Worte an mein Kind, wenn wir im Sturzflug auf den Atlantik zurasen? Wenn ich diese Messer aus dem Geschirrspüler nun zur Schublade trage, was ist, wenn ich sie aus Versehen fallen lasse, sie in den Kopf meiner Tochter fallen und stecken bleiben. Würden die Sanitäter und Chirurgen sie retten können? Welche Schritte müsste ich unternehmen, wenn Alea von dieser Rutsche runterfällt, sich einen Zahn ausschlägt und die Blutung nicht aufhört? Daily Business in meinem Kopf.
„Ihre Tickets bitte“, reißt es mich aus meinen Gedanken. Alea sitzt im Kinderwagen und schaufelt mit rot gefärbten Fingerspitzen die Snacks in sich hinein. Ich zeige stolz die Flugtickets und noch stolzer die Reisepässe, denn ich konnte die Kleine beim heimischen Shooting für das Passfoto erstaunlich gut stillhalten. Kurze Zeit später sitzen wir bereits – ich kann es kaum fassen – auf unseren Plätzen. Richtung Karibik. Mit Baby-Bassinet, in dem Alea hoffentlich schlummern wird. „Maximal 11 Kilo“ wurde uns bei der Reservierung gesagt. Alea wiegt 12 Kilo. Schön geschummelt.
Das allergrößte Glück
Und ja, ich merke die Blicke im Nacken. Die Blicke, die sich auf mein Kind richten und während denen die Passagiere tief durchatmen. Blicke, die meinen Magen flau werden lassen. Mein einziges Schild & Schwert, um gegen das schlechte Gewissen den Insassen gegenüber in den Kampf zu ziehen, sind fünf Worte: Ich sehe euch nie wieder. Außerdem gebe ich mein Bestes, um die Reise für mein großes Baby erträglich zu machen.
So lasse ich sie mit ihren spitzen Hacken auf meinen Oberschenkeln herumturnen, während das Bordpersonal die Sicherheitsanweisungen zeigt. So lasse ich sie beim Start an Quetschies nuckeln, damit der Druckausgleich leichter wird. So lasse ich sie Tiervideos auf dem Handy gucken, damit sie den Flugzeuglärm vergisst. Lasse sie am Display daddeln. Krümme meinen schmerzenden Rücken auf den engen Gängen noch länger, damit sie an meiner Hand immer wieder hoch und runter laufen kann. Zeige ihr den Nachthimmel am Fenster. Spüre ihr Gähnen an meiner Schulter. Gewähre ihr, auf meinem Schoß einzuschlummern und mir die Halsfalten vollzusabbern. Und als ich sie vorsichtig in das Babybettchen an der Wand lege, die Sicherung festmache, sie tatsächlich schläft und ich mich erschöpft in meinen Sitz fallen lasse, starrt mich Lupita anerkennend an.
„Warum tust du dir das alles an?“, fragt sie.
„Du hast mich doch gebeten, dich zu begleiten?“, antworte ich.
Da fragt sie: „Nein, ich meine … warum tust du dir diese ewige Arbeit mit einem Kind an?“
Und während neben dem Dröhnen der Turbinen doch irgendwie Ruhe im Airbus herrscht, flüstere ich ihr zu: „Weil es das allergrößte Glück ist, wenn und seit und weil sie bei mir ist.“