Reisebaby

Im Volksmund gibt es anscheinend zwei Elterntypen: Töpfereltern und Gärtnereltern. Töpfereltern versuchen, das Kind nach ihren eigenen Vorstellungen zu formen, während Gärtnereltern den Nachwuchs wachsen lassen und quasi zuschauen, was wohl dabei herauskommt. Die meisten von uns finden sich wahrscheinlich in der Mitte wieder. 

Als Anhängerin des süßen Frühstücks sehe ich die Kindererziehung gerne als Pfannkuchen: Jede Familie hat ihr eigenes Rezept. Manche schwören auf Vanillezucker, andere auf Selter oder besonders feines Mehl. Jede Familie mag ihre Pfannkuchen anders: dicker oder dünner, brauner oder heller, kleiner oder größer, mit oder ohne Butter in der Pfanne. Man muss den flüssigen Teig ab und zu schwenken, damit er in die gewünschte Richtung fließt. Am Ende kommt dann – trotz diverser Eigenarten – immer etwas Süßes bei rum. Wie bei Kindern. 

Immer wieder faszinieren mich dabei die Eigenarten im Ausland: anderes Essen, anderes Klima, andere Sprache, andere Erziehung. Ob vor einer Bambushütte am Mekong-Delta in Vietnam spielend, in einer Hightech-Wippe im kleinen Apartment in Tokio schaukelnd oder eben auf dem Dreirad in der Reihenhaussiedlung in Buxtehude. Wenn ich gereist bin, habe ich (jung und kinderlos) dabei gerne zwei Sachen ins Visier genommen: fremde Friedhöfe und fremde Kindererziehung. Es gibt auf der ganzen Welt so viele Nationen, Kulturen, Milieus, Charaktere, Familienbilder, Erziehungsmethoden – dieser Artikel würde nie enden. Deshalb kann ich nur durch den dunklen Wald der Kindererziehung stapfen und meine Taschenlampe auf einige Beispiele richten  – von dem, was ich während meiner Auslandsaufenthalte in mich aufsaugen konnte. 

Wenn alles laut ist, weckt auch nichts das Kind auf

México: Hier habe ich ein Jahr nach dem Abi in einem ärmeren Dorf im Hochland gelebt. Was mich am meisten verwirrt hat, waren nicht die Babys, die bei 38 Grad im Schatten noch in Polyester-Decken gehüllt werden (und zwar so, dass man das Gesicht auch nicht mehr sehen kann), oder dass die erste Beikost mit Chili gewürzt wurde (hey – das Kind muss früh abgehärtet werden!), sondern die Schlaferziehung. Wenn das Kind nämlich müde wurde, hat man nicht die Verwandtschaft gebeten, leiser zu sprechen, oder ist in einen separaten Raum gegangen. Sondern dann wurde erst richtig aufgedreht. Die Musik. Das Lachen. Der Trubel. 

Ich sah Eltern in Deutschland vor meinem inneren Auge, im Flüsterton sprechend und über die knarrenden Dielen schleichend. Bloß kein Geräusch machen, welches das Kind aus dem Mittagssschlaf reißen könnte. In México wird auf eine andere Karte gesetzt: Wenn alles laut ist, weckt auch nichts das Kind auf. Und das Baby fühlt sich nicht alleine. So wurde bei manch einer Fiesta das Baby extra aus dem Schlafzimmer geholt und auf einen Stuhl in die Mitte gelegt. Irgendwie fand ich das sehr schön. Außerdem konnten die Kids so sehr gut den Mittagsschlaf vom Nachtschlaf unterscheiden, denn in der Dunkelheit wurde es ja tatsächlich still. Dazu gab es im Dorf natürlich das Familienbett Deluxe: Teilweise schliefen drei Generationen auf einer Matratze. Selbst die Geschwister quetschten sich  – erwachsen und inzwischen Mitte 20  – mit ins Bett.

Südkorea: Hier habe ich während eines mehrwöchigen Kulturaustauschs bei einer Familie in der Hauptstadt Seoul gelebt. Und wo wir schon beim Thema Schlaf sind: Hier gab es ein Bett, das nicht genutzt wurde. Meine Familie schlief (wie viele Koreaner) auf dem harten Holzboden, nur mit einer Wolldecke bedeckt. Aua! Das Bett stand nur aus Dekorationsgründen in der Wohnung, weil  – hey  – das ist im Westen hip! 

Disziplin, Erfolg und Respekt sind wichtiger als Freude und Spiel

Ich lebte dort mit Witwe Seoyoung und ihrer achtjährige Tochter Yunai. Ich muss sagen, dass ich nach diesem Aufenthalt tief betroffen war und meiner Mama in Deutschland gern täglich um den Hals gefallen wäre, was für eine schöne Kindheit sie uns beschert hatte. In Südkorea sind Disziplin, Erfolg und Respekt wichtiger als Freude und Spiel. Kennt Ihr diese Szene in Titanic, in der das kleine Mädchen beim Tee kerzengerade sitzt, ganz akkurat ihre Tasse hält und höflich nickt? Daran musste ich oft denken, wenn ich Yunai beobachtete. Sie war Meisterin an der Zither. Täglich übte sie stundenlang. Gedrillt am Saiteninstrument – was für ein Klischee, dachte ich. Tatsächlich bekommen viele südkoreanische Kinder schon im Krippenalter einen Talent-Scout an die Hand, der das Kleinkind beobachtet und einschätzt, ob es eher im Musik-, Sport- oder Kunstbereich gefördert werden sollte. Das Kind wird auf ein „Talent“ festgelegt und verfolgt dieses akribisch. Im Smalltalk mit Jugendlichen in meinem Alter wurde dabei auch immer erst nach meinem Namen gefragt, und dann, welches Talent ich habe. Hm, mein Talent? Vielleicht, dass ich bei Pokémon Gameboy den Geheimweg nach Azuria City blind auswendig kenne? 

Ich empfand das alles als sehr verstörend. Eines Morgens war sichtlich bedrückte Stimmung am Frühstückstisch, die scheinbar perfekte Welt bröckelte. Yunai war angespannt und ihre Mutter ganz hibbelig. Es war der Tag der Zwischenergebnisse: Monatlich wurden in der Grundschule die Ergebnisse ausgehangen, vom ersten bis zum letzten Platz. Die Krux: Egal wie fleißig man lernt, am Ende muss ja einer die hinteren Ränge belegen. Es tat mir im Herzen für das Mädchen leid. Schließlich belegte sie einen Platz im Mittelfeld und bekam extra Nachhilfeunterricht. Dabei saß sie doch schon bis 23:00 Uhr täglich am Schreibtisch. 

In der Schule dürfen die Kinder nicht widersprechen, ein „Nein“ gilt in Südkorea als extrem unhöflich. Und sind wir schon mit der „Sie“-Form in Deutschland überfordert, ist Korea next Level. Zehn Höflichkeitsformen haben Kinder anzuwenden. Skurril empfand ich auch das ständige Fragen nach dem Alter. Doch für südkoreanische Kinder war es ein wichtiges Zeichen, wie sie sich verhalten sollten: Wer älter ist, bezahlt zum Beispiel den Lolli. Dafür zieht das jüngere Kind den Stuhl zurück, wenn sich das ältere Geschwisterchen an den Tisch setzt. 

Oh, einen Fun Fact muss ich noch loswerden. Im Kultur-Camp durften wir einen Tag südkoreanische Masken mit farbiger Masse bekleben. Rot, gelb, pink, grün: Der Tisch war voller Farben. Doch immer, wenn ich nach Gelb greifen wollte, schüttelte der Campleiter seinen Kopf und reichte mir Blau, Weiß oder Rot. Die südkoreanische Flagge. Am Ende hatten wir alle die Nationalfarben auf unseren Masken und die anderen bunten Töpfe blieben unberührt. Ich fragte mich, ob ich wohl in Nord- statt Südkorea gelandet sei. Und dachte mir, dass dies ein trauriger Ort für eine bunte Kindheit ist. 

Mit Schwung durch die Kindheit

Estland: Hier war ich kurz nach meinem Studium für einen Monat Schafe hüten am Rande einer Kleinstadt. Ich wollte ein wenig runterkommen und Natur genießen – am Ende blieb mir vor allem die Furchtlosigkeit der estnischen Kinder in Erinnerung. Und dass bereits Babys mit nur einem Monat an die Kultur des Saunierens herangeführt werden. Ein Bild hat sich in mein Gedächtnis gebrannt: Kinder auf Schaukeln mit Überschlag. Ja, genau. Das, was wir in unserer Kindheit vergeblich versuchen, ist in Estland quasi Nationalsport (genannt „Kiiking“): Schaukeln, die keine Ketten sondern feste Metallstangen haben und somit überschlagsfähig sind. 

Die Kinder werden mit Füßen und Händen an die Schaukel gebunden, bekommen Anschwung und machen tapfer Saltos. Mit Schwung durch die Kindheit. Dabei erreichen die Schaukeln die Höhe von Einfamilienhäusern. Nun, da ich selber Mutter bin, würden mir die Ohren schlackern, meinen Kleinen dort anzubinden. Doch eigentlich beneide ich den Mut der Eltern. Ihre Kinder überall hochklettern zu lassen, denn irgendwie werden sie schon runterkommen. Die Kinder Sand essen zu lassen, denn sie werden schon merken, dass der nicht schmeckt. Besonders gefördert wurde das kindliche Spiel, das freie Spiel. Völlig absichtsloses Spielen. Spielen ohne Spielzeug. Zwischen Birken, Schaffellen und Kaminen tollten die Kids mit einer unfassbaren Kreativität. Und das oft allein. Sie konnten sich ganz wunderbar ohne Eltern beschäftigen. Das wollte ich mit meinen eigenen Kindern später auch erreichen.

Sie wurden außerdem zu Selbstständigkeit erzogen, zum Beispiel holten sie vor dem Abendbrot den Staubsauger und saugten ihr Zimmer selber. Im Grundschulalter! Ich war hin und weg. Genauso vorbildlich: die Rolle des Mannes. Die Männer, die ich beobachten konnte, beteiligten sich zu gleichem Teil am Haushalt wie die Frauen. Ein tolles Vorbild gerade für Söhne. Mama saugt, Papa saugt, und das Kind saugt. Was erst etwas nach Kinderarbeit aussah, hat mich so fasziniert, dass ich es unbedingt selber mit meiner Erziehung ausprobieren will. Noch weiß mein Sohn noch nicht einmal, dass er Hände hat. Ich hoffe, ich kann ihm später ganz estnisch beibringen, wie er sie zu benutzen hat. Oder sie zumindest todesmutig mit Vertrauen an der Schaukel festbinden.

Für viele Eltern scheinen außerdem Franzosen seit dem Bestseller „Warum französische Kinder keine Nervensägen sind“ ein Vorbild zu sein. Sie sollen ihre Kinder so gut erziehen, dass diese still und mit Manieren an einem Fünf-Gänge-Menü teilnehmen können. Ich kenne leider keine französischen Kinder und war nie sonderlich lang in Frankreich. Was ich bei meiner ersten Recherche aber gelesen habe ist, dass es in Frankreich völlig normal ist, sein Baby mit vier Monaten in die Krippe zu geben und dass die Mehrzahl der Franzosen Ohrfreigen oder Klapse auf den Po als Erziehungsmaßnahme befürwortet. Ich kann nicht beurteilen, ob das wahr ist. Oder wie intensiv es ausgelebt wird. Aber ich denke, es macht klar, dass jedes Licht seine Schattenseiten hat. 

Kolumbien: Eine kleine Anekdote noch aus Kolumbien, wo ich drei Monate in einer TV-Redaktion arbeitete. Hier hat mich total fasziniert, wie die gesamte Familie, Nachbarschaft und Freunde in die Kindererziehung eingebunden sind – wie in so vielen Nicht-Industrieländern. Es braucht eben doch ein Dorf, um ein Kind großzuziehen. Alle packen mit an und sind euphorisch, wenn sie mit den Kids Zeit verbringen. Selbst als mitten im Gottesdienst in der hinteren Reihe ein Baby anfing zu schreien, drehten sich viele Kolumbianer gütig lächelnd um. In Deutschland hätten sich bestimmt auch viele umgedreht – aber sicher nicht mit einem Lächeln auf den Lippen. 

Völlig abgeschreckt haben mich allerdings die Geschlechterrollen. Mädchen werden pink angezogen, schon als Baby in Tutus gesteckt, Haarreifen und diese absurden Blumen im Babyhaar sind Alltag. Kein Wunder in einem Land mit den meisten Schönheitsoperationen, das zudem  Exportweltmeister von Shapewear ist. Auf das Äußere der weiblichen Kinder wird extrem geachtet. Früher habe ich oft – auch aus Scham, weil ich nicht wusste, wie man mit Kindern redet – kleine Mädchen für ihre Outfits gelobt. „Oh, duuu siehst aber toooll aus! Daas ist ja ein süßer Pulli!!“ Inzwischen achte ich darauf, nicht mehr Äußerlichkeiten zu loben, sondern Charakterliches. „Wie gutmütig du bist. Wie clever du bist. Wie kreativ du bist.“

Am Ende – egal wo auf unserem Globus – wollen wir Eltern das Beste für unser Kind. Und jeder hegt auf seine Weise auch mal Groll gegen die Kleinen und ist am Ende mit den Nerven. Wie schön, dass wir alle in einem Boot sitzen. Ob in Kathmandu oder San Francisco. Wie man in Afghanistan gerne sagt: „Jede Frau ist anders. Jedes Kind ist anders. Jede Situation ist anders. So muss man bei verschiedenen Kindern zu verschiedenen Zeiten immer etwas anderes anwenden. Jede Familie hat ihre eigene Methode“. Manchmal kann man sich dennoch etwas abgucken. Ein bisschen mehr Vanillezucker, eine Prise weniger Salz. Dabei immer mal wieder einen Blick auf den Pfannkuchen werfen, damit nichts anbrennt. Doch das Wichtigste: Mut und Vertrauen in die eigenen „Backkünste“ haben.