„Moja macica – moj wybor“ – „Meine Gebärmutter – meine Entscheidung“ hallt momentan beinahe täglich durch die Straßen der großen polnischen Städte. Allein in Warschau zogen hunderttausende Protestierende durch die Straßen, um ihren Unmut kund zu tun. Auf Gesichtern, Masken und Protestschildern prangen rote Blitze, das Symbol der Protestbewegung gegen das verschärfte Abtreibungsgesetz, das schon vor den neusten Entscheidungen zu den strengsten Europas gehörte.
Karina ist in Polen geboren und lebt seit fünf Jahren in Deutschland. Sie ist von der Gesetzesänderung geschockt. „Als ich von der Entscheidung des Verfassungsgerichtes hörte, war ich extrem wütend. Wir sprechen hier nicht einmal über das Recht zu wählen, ob eine Frau die Schwangerschaft weiterführen will – wir sprechen über schrecklich kranke Kinder, die gezwungen werden, auf die Welt zu kommen, um ein paar Stunden oder Tage unter Schmerzen zu leben. Das ist unmenschlich und barbarisch.“
Die Polin ist erst vor kurzem selbst Mutter geworden und wünscht keiner Frau das schreckliche Schicksal, was nun auf viele polnische Frauen zuzukommen droht. Immerhin wurden knapp 98 Prozent der 2019 in polnischen Kliniken durchgeführten Abtreibungen mit Fehlbildungen des ungeborenen Kindes begründet.
Der 22.10.2020 war in Polen ein dunkler Tag für alle Menschen mit Uterus: Die wichtigste Ausnahme im Abtreibungsverbot wurde für verfassungswidrig erklärt. Zwar sind auch in Deutschland offiziell Schwangerschaftsabbrüche nach wie vor rechtswidrig, aber durch den § 218a StGB werden Ausnahmen durch die Beratungsregelung, eine kriminologische Indikation und auch durch eine medizinische Indikation festgelegt. Ebendiese medizinische Indikation wie ein „schwerst geschädigter oder nicht überlebensfähiger Fötus“ sieht das polnische Verfassungsgericht als Verstoß gegen die Verfassung. Das bedeutet im Klartext: Auch wenn das ungeborene Baby bereits im Mutterleib stirbt oder nach der Geburt nicht lebensfähig sein wird, muss die Mutter ihr Kind gebären. Damit herrscht ein de-facto Verbot von Abtreibungen.
Ehrlich gesagt – ich weinte
Karina lebt in Berlin und die gebürtige Polin hat vor einigen Wochen ihre kleine Tochter zur Welt gebracht. „Als junge Mutter, mit meinem winzigen Baby im Arm, dachte ich über diese Tragödien nach. Ich dachte an die schwer behinderten Kinder, um die sich meine Mutter in einer Tagespflege kümmert, und daran, was ihre Familien in Polen ohne große Unterstützung des Staates durchmachen. Ehrlich gesagt – ich weinte.“ Obwohl sie sich als Teil der deutschen Gesellschaft sieht, ist die ganze Situation für sie sehr persönlich. Ihre Mutter und ihre Schwestern wohnen noch in Polen und das kollektive Leid der polnischen Frauen sei nun einmal deren Alltag und demnach auch der ihre.
Die Proteste, wie in ihrer alten Heimatstadt Warschau sowie in anderen großen polnischen Städten wie Krakau, Danzig oder Posen, gehen ihr sehr nah. „Ich glaube es ist nicht nur nötig zu protestieren, um eine Veränderung zu bewirken, sondern es ist auch gut für die Seele, endlich mal nach Jahren des politischen Wahnsinns, da raus zu gehen und VERPISST EUCH zu schreien. Ich bin extrem stolz auf meine Mutter und meine Schwester, dass auch sie für ihre Rechte und die aller Frauen einstehen und sich an den Demonstrationen beteiligen.“
Während die Welle des Protestes nicht abzuflachen scheint, überrollt parallel das Corona-Virus weiter das Land. Kaum ein anderes EU-Land führt so wenig Tests durch wie Polen und dennoch gab es letzte Woche mehr als 18.000 Neuinfektionen pro Tag. Ob infolge der Proteste die Zahlen der mit Covid-19-Infizierten noch mehr ansteigt, wird in den nächsten Tagen zu sehen sein. Auch Karina ist nervös, weil die Corona-Situation in Polen außer Kontrolle ist. „Das Gesundheitssystem ist komplett überfordert, es gibt keine Plätze in den Krankenhäusern.“, sagt die junge Polin. Das die Menschen in Polen trotz der Pandemie auf die Straße gehen und eine Ansteckung riskieren, zeigt wie verzweifelt die polnischen Bürger sind und wie tief das Vertrauen in die Regierung erschüttert ist.
Die Frauen, die legale Abtreibung fördern
„Da gibts auch ein weiteres Problem: Polnische regierende Politiker haben die Neofaschisten aufgerufen, um die ‚Gesellschaft und die Polnische Kirche vor linkem Extremismus zu schützen‘. Linksextremismus heißt in diesem Fall: die Frauen, die legale Abtreibung fördern.“ Karina spricht unter anderem von Jarosław Kaczyński, dem Parteichef der Regierungspartei PiS. Es kam während der Proteste bereits zu Übergriffen gegenüber den DemonstrantInnen. Auch in Deutschland spricht sich eine im Bundestag vertretene Partei klar gegen Abtreibungen aus. Auf die Frage, ob die junge Mutter ähnliches in Deutschland befürchtet, wird sie nachdenklich. „Die erste Antwort, die mir in den Sinn kommt, ist: nein. Die Deutschen sind eine etwas andere Gesellschaft, mit einer anderen Geschichte, was eine Lektion war und die man nicht vergessen sollte. Außerdem scheint die Demokratie weiterentwickelt und solide zu sein. Auf der anderen Seite war Polen noch vor sieben Jahren ein modernes osteuropäisches Land, in dem die Menschen hoffnungsvoll in die Zukunft blickten, vielleicht traditionell, aber offen und freundlich. Es ist unglaublich, wie schnell die Fundamentalisten die Gesellschaft verändern können. Und das sollte nicht vergessen werden.“
Die PiS-Partei wurde im selben Jahr an die Macht gewählt, in dem Karina Polen verließ, das war 2015. Der Umzug nach Berlin sei dennoch eine ziemlich zufällige Entscheidung gewesen. „Als ich dieses Jahr schwanger wurde, war ich so glücklich in Deutschland zu sein. Durch die Entfernung konnte ich tatsächlich klarer sehen, was schiefläuft. Für ein Beispiel braucht man nur anschauen, was man für die Steuern bekommt, die man hier zahlt, und was die Polen von ihrer Regierung bekommen (und wir zahlen fast den gleichen Betrag).“
Für Karina sei es keine Option, je wieder in Polen zu leben. Dennoch hofft sie, dass sich etwas ändern wird. „Ich wünsche mir, dass die Menschen in Polen in ein paar Jahren in einer friedlichen Gesellschaft leben können, in der die Schwachen beschützt, die Kinder geliebt und umsorgt werden, die Alten sich keine Sorgen machen müssen, woher sie Essen bekommen, die Schule die Kinder lehrt, gut und mutig zu sein, Krankenhäuser Orte der Genesung statt Orte des Sterbens sind und die Medien frei sind.“
Bild: Martyna Lind